Wilhelm Levison, Historiker
Experte für Deutschland – aus Deutschland vertrieben
Politische Verblendung folgt keiner Ratio. Es gehe ihnen „um Deutschland“, behaupteten die Nationalsozialisten. Ob jemand sich wirklich mit Deutschland auskannte, kümmerte sie dabei nicht. Der Bonner Historiker Wilhelm Levison etwa: Jahrzehntelang kannte ihn die Fachwelt als einen der bedeutendsten Experten für die Geschichte des mittelalterlichen Deutschland überhaupt. Dann musste er Deutschland verlassen – weil er Jude war.
Wilhelm Levison entstammte einer alten jüdischen Familie aus Siegburg, der Nachbarstadt Bonns und heutigen Kreisstadt des Rhein-Sieg-Kreises; Levisons Vetter Heinrich war der letzte Vorsteher der dortigen Synagogengemeinde und wurde 1942 im Konzentrationslager Theresienstadt ermordet. Außer dem 1876 geborenen Wilhelm entstammten der Familie noch sechs weitere Akademiker (Ärzte, Rechtsanwälte und Chemiker), die alle an deutschen Universitäten promovierten. Levison lebte bis zu seinem Abitur in Düsseldorf; der Rektor seines Gymnasiums bescheinigte ihm schon damals „Kenntnisse in Geschichte, die ihm in seiner Praxis noch nie vorgekommen“ seien. Außer Latein, Griechisch, Französisch und Hebräisch erlernte er bereits als Jugendlicher die englische Sprache, die damals noch nicht als obligatorisch für jeden Gebildeten galt; dank familiärer Beziehungen konnte er in dieser Zeit bereits viele Reisen zu britischen Archiven und Bilbiotheken unternehmen. 1894 schrieb er sich an der Universität Bonn für die Fächer Geschichte und Klassische Philologie ein und promovierte (nach einem Zwischensemester 1895 in Berlin) auch dort; seine Dissertation von 1898 war die erste Bonner althistorische Doktorarbeit in deutscher Sprache. Sein Aufsatz „Zur Geschichte des Frankenkönigs Chlodwig“, 1898 in Bonn erschienen, ebnete ihm den Weg zur „Monumenta Germaniae Historica“ (MGH): Von 1899 bis 1920, bis zum Amtsantritt seiner Bonner Professur, beteiligte er sich als fester Mitarbeiter an dieser wichtigsten Edition deutscher Geschichtsquellen des Mittelalters und wurde 1925 zudem in die MGH-Zentraldirektion gewählt. Bald galt Levison als einer der angesehensten deutschen Historiker seiner Zeit: Er forschte zum Beispiel über die Merowinger, die Geschichte des Papsttums und der Rheinlande und die englische Verfassungsgeschichte.
Im Jahr 1903 habilitierte sich Levison in Bonn, war zunächst Privatdozent, ab 1912 außerordentlicher und ab 1920 ordentlicher Professor. Als solcher war er auch ein Vorkämpfer des damals noch relativ neuen Frauenstudiums; immerhin elf seiner 44 Bonner Doktoranden bis zum Jahr 1933 waren Frauen. Zum Zeitpunkt der „Machtergreifung“ der Nationalsozialisten war Wilhelm Levison auf seinem Fachgebiet einer von nur drei ordentlichen Professoren jüdischer Herkunft in Deutschland und geriet daher ins Visier des rassistischen Regimes: Seine Publikationsmöglichkeiten schwanden, 1935 wurde er zwangspensioniert und 1938 aus dem „Verein von Altertumsfreunden im Rheinland“ ausgeschlossen. Nach der „Reichspogromnacht“ vom November 1938 entschied sich Levison fürs Exil. Im April 1939 gelang ihm die Übersiedlung nach England. Nach Kriegsausbruch zunächst auf der Isle of Man interniert, wirkte er ab September 1940 an der Universität Durham (sie hatte ihn bereits 1931 zum Ehrendoktor ernannt). Die Universität Oxford machte ihn 1942 zum renommierten „Ford’s Lecturer in English History“. Selbst im Exil gedachte er seiner Bonner Jahre nicht mit Bitterkeit, trug zum Beispiel auch in Durham seinen Bonner Professoren-Talar. In seinem Testament bestimmte er, dass jene Bücher aus seiner privaten Bibliothek, von denen es in Bonn wegen des Krieges keine Exemplare mehr gab, an das dortige Historische Seminar gehen sollten, und legte so einen Grundstein zum Wiederaufbau der Institutsbibliothek. Zudem spielte er eine wichtige Rolle bei den Gesprächen zur Rückgabe der Bonner Ehrendoktorwürde an Thomas Mann.
Wilhelm Levison verstarb am 17. Januar 1947 in Durham; sein Grab liegt auf dem Friedhof der Kirche Saint-Mary-le-Bow. Seit 1977 ist eine Straße in der Bonner Südstadt nach ihm benannt.
(c) Wilhelm Levison, Foto: Archiv/Universität Bonn