Reinhard Selten, Mathematiker und Wirtschaftswissenschaftler
Das Spiel der Wirtschaft und eine internationale Sprache
Jahrzehntelang glaubten die Experten, der Mensch sei ein „homo oeconomicus“. Das soll heißen: Er trifft seine Entscheidungen (und zwar immer!) streng rational auf der Grundlage klarer Kosten-Nutzen-Erwägungen. Heute sehen zahlreiche Denker das anders. Sie folgen der „Spieltheorie“: Sie sieht menschliches Handeln (auch im Bereich der Wirtschaft) als lediglich von „eingeschränkter Rationalität“ geprägt – als ein komplexes Zusammen-, manchmal auch Gegeneinanderwirken von rationalen und emotionalen Faktoren. Bei diesem Paradigmenwechsel in der Forschung spielte der Bonner Wirtschaftswissenschaftler Reinhard Selten eine essentielle Rolle.
Reinhard Selten wurde 1930 in Breslau (Wrocław) geboren. Weil sein Vater Jude war, musste Selten als Jugendlicher das Gymnasium verlassen und konnte erst nach der Flucht der Familie aus Schlesien Abitur machen, mit 21 Jahren und „mit Auszeichnung“. Er studierte Mathematik in Frankfurt, wo er auch promovierte und habilitierte. Professor war er zunächst von 1969 bis 72 an der Freien Universität Berlin und 1972 bis 1984 an der Universität Bielefeld. Dass er 1984 nach Bonn wechselte, lag auch daran, dass er dort das wirtschaftswissenschaftliche Labor „BonnEconLab“ aufbauen konnte: Es ermöglichte ihm eine intensive Arbeit an seinem Spezialgebiet, der „Spieltheorie“. Reinhard Selten fasste es einmal folgendermaßen zusammen: „In wirtschaftstheoretischen Modellen [wird] meistens vorausgesetzt, dass die Menschen nur ihren eigenen materiellen Nutzen maximieren wollen. Unsere Experimente haben gezeigt, dass das eben in der Wirklichkeit nicht der Fall ist. Es ist vielmehr so, dass es durchaus eine interaktive Motivation gibt, bei der Fairness, Vertrauen und Reziprozität eine sehr wichtige Rolle spielen. Anders gesagt, der Mensch strebt eben auch in nichtkooperativen Spielen eine faire Lösung an, die dann nicht unbedingt im Gleichgewicht ist, und vertraut eben darauf, dass der Andere sich ebenfalls als anständig erweist.“
1994 wurde Reinhard Selten für seine Arbeiten auf dem Gebiet der Spieltheorie der Alfred-Nobel-Gedächtnispreis für Wirtschaftswissenschaften der Schwedischen Reichsbank verliehen, der inoffizielle „Wirtschafts-Nobelpreis“. Selten ist der bislang einzige Deutsche, der diesen Preis erhielt; er teilte sich die Auszeichnung mit John Harsanyi (mit dem er zusammenarbeitete) und John Nash (auf dessen Arbeiten die beiden dabei aufbauten). Das verbindet den Bonner Forscher auf Umwegen auch mit einer Ikone der Popkultur: Nash wurde 2001 auch außerhalb der Wissenschaftswelt berühmt durch den sein Leben behandelnden Film „A Beautiful Mind“ (mit Russell Crowe in der Hauptrolle).
Reinhard Seltens Interesse für die zwischenmenschliche Kooperation äußerte sich auch auf einem ganz speziellen Gebiet: Er engagierte sich für die Welthilfssprache Esperanto, die er seit seiner Jugend sprach. Er verfasste auch Texte in ihr, zum Beispiel „Enkonduko en la teorion de lingvaj ludoj: Ĉu mi lernu Esperanton? – Einführung in die Theorie sprachlicher Spiele“ (1995; eine Untersuchung über die Anwendung der Spieltheorie auf das Problem der Wahl einer internationalen Sprache) und „Für Zweisprachigkeit in Europa – Por dulingveco en Eŭropo“ (2005). Dies blieb für Reinhard Selten keine rein akademische Frage: Zur Europawahl des Jahres 2009 kandidierte er als deutscher Spitzenvertreter der EDE, der „Liste Europa – Demokratie – Esperanto“, die in Deutschland damals immerhin 11.722 Stimmen bekam (die meisten davon in Baden-Württemberg).
Zahlreiche Universitäten verliehen Reinhard Selten Ehrendoktorate, zwei Unis im chinesischen Schanghai sogar Ehrenprofessuren; die Universität Bonn ernannte ihn im Jahr 2007 zum Ehrensenator. Selten starb am 23. August 2016 in Poznan (Posen). Der traditionsreiche Berliner „Verein für Socialpolitik“ vergibt seit 2011 den „Reinhard-Selten-Preis“ für wirtschaftswissenschaftliche Arbeiten junger Forscher, die sich „durch Originalität, Bedeutung der Fragestellung und saubere Methodik auszeichnen“.
(c) Reinhard Selten, Foto: Volker Lannert/Uni Bonn