Im Bismarckreich: 1870 - 1918
Der wirtschaftliche Aufschwung seit den Gründerjahren kam auch der Universität Bonn zugute. In rascher Reihe wurden viele Neubauten errichtet. Vor allem die medizinische Fakultät profitierte davon, die ihre zu eng gewordenen Räume im kurfürstlichen Schloss verlassen konnte. 1872 zog zunächst das Anatomische Institut in einen Neubau nach Poppelsdorf. Dann wurde 1873 die Augenklinik eingerichtet, 1876 die Medizinische Klinik, 1877 die Chirurgische, dann die Hautklinik (1882), schließlich die HNO-Klinik (1885) und die Medizinische Poliklinik (1903). So entstand nördlich der Innenstadt, nahe am Rheinufer, ein regelrechtes „Klinikviertel“ rings um die Stiftskirche, wo sich bis zu den Zerstörungen des Zweiten Weltkrieges die heilerische Kompetenz der Hochschule versammelte. Es war auch die Zeit, in der sich die neue Wissenschaft der Psychologie zu etablieren begann: 1898 entstand das Psychologische Seminar, 1908 die Nervenklinik.
Der wissenschaftliche Fortschritt ging mit dem gesellschaftlichen einher (wenngleich dieser etwas langsamer ablief als jener): 1896 erlaubte ein Erlass des preußischen Kultusministeriums erstmals auch Frauen den Besuch der Universitäten des Königreichs – zunächst nur im Status von Gasthörerinnen, ab 1908 dann auch mit dem Recht zur ordnungsgemäßen Immatrikulation. Schon im Wintersemester 1896/97 waren es 16 junge Frauen, die diese neue Möglichkeit nutzten, darunter auch eine aus England und eine aus den USA. Mit Beginn des neuen Jahrhunderts wurden dann die Wörter „Universität“ und „Gefängnis“ endgültig zum Widerspruch: Im Jahre 1901 schloss der Bonner „Karzer“ seine Tore für immer. Und das Wachstum ging weiter: Im Jahr 1900 zählte die Universität Bonn 68 ordentliche und 23 außerordentliche Professoren, zwei ordentliche Honorarprofessoren, 57 Privatdozenten und sechs Lektoren.
Dann setzte der Erste Weltkrieg Europa in Brand – und erfasste auch die Hochschulen. Schon am 3. August 1914, am Tag der deutschen Kriegserklärung gegen Frankreich und zwei Tage nach der gegen Russland, verkündete Rektor Aloys Schulte „im Namen aller Studenten und Dozenten“ einen „Treueschwur für den heiligen Krieg“ an Kaiser Wilhelm II., der „meiner teuren Friedrich-Wilhelms-Universität herzlichen Dank“ ausrichten ließ. Damals waren 4518 Studenten in Bonn eingeschrieben (darunter bereits 399 Frauen). Doch die Zahl verringerte sich rasch: Weil viele junge Männer nur zu bereitwillig dem Ruf „Burschen heraus!“ folgen wollten, wurde (so sagt das Uni-Jahrbuch) „zügig abtestiert“. Schon im Frühjahr 1915 waren 65 Dozenten, 30 Assistenten, 25 Beamte, ein Lektor und 2739 Studenten „zu den Fahnen geeilt“ – bei den männlichen Studenten mehr als 70 Prozent – und auch die ersten 118 Gefallenen waren zu beklagen (113 Studenten, zwei Assistenten, drei Dozenten). Ein Jahr später tragen 82 Prozent der männlichen Studenten die graue Uniform (802 männliche und 440 weibliche Studenten sind übrig) zu Beginn des letzten Kriegsjahrs dann 84 Prozent der damals 5138 immatrikulierten Männer. Medizinstudenten dienten in einem von der Hochschule eingerichteten Lazarettzug, die Unikliniken versorgten Verwundete, Studentinnen halfen in Wohltätigkeitseinrichtungen. 60 Räume im Hauptgebäude hatte die Uni zwecks Versorgung der notleidenden Menschen zur Verfügung gestellt, nicht nur im „Hungerwinter 1916/17“: Im Auditorium Maximum lagerten Lebensmittel, im Keller Kartoffeln, im Kunsthistorischen Institut Stiefel, das Historische Seminar wurde zur Kleiderkammer, die Pedellwohnung zur Flickschusterei, ein Hörsaal zur öffentlichen Kriegsküche. Doch alle Bemühungen konnten die Niederlage des Kaiserreiches nicht verhindern. Nach vier Kriegsjahren hatte die Universität einen entsetzlichen Zoll gezahlt. Die „Ehrentafel“, die seit 1930 im Durchgang von der Stadtseite zum Innenhof des Hauptgebäudes an die gefallenen Bonner Studenten und Dozenten erinnert, verzeichnet 736 Namen.
(c) Ehrentafel für gefallene Soldaten, Marmor, 147 x 86 x 2 cm, ursprünglich aufgehängt in der früheren Aula im Hauptgebäude der Universität, Montage: Volker Lannert/Universität Bonn
Aus: Rheinische Wunderkammer. 200 Objekte aus 200 Jahren 1818-2018, Göttingen 2017